Mann des Ostens, Mann der Kirche — Joachim Gauck und das Genitivattribut in einer „Korpuslinguistik ‚live‘ und ‚light'“

Heute wurde Joachim Gauck im Bundestag als elfter Bundespräsident der Republik vereidigt. Alle warteten gespannt auf seine Ansprache, für die Bundestagspräsident Norbert Lammert — passend zum sonnigen Wetter — in äußerst angenehmer Weise und mit seinem für treffsichere Spitzen bekannten Humor die Atmosphäre schuf. Als Linguist könnte man sich zwar auch für den Humor Lammerts interessieren, spannender ist heute aber, was Gauck in seiner Ansprache adressierte.

Aus praktischen Gründen kommt hinzu, dass man im Moment in der glücklichen Lage ist, dass das Korpus der Reden des BP Gauck vor dem Bundestag sich noch in überschaubarem Rahmen hält und so eine „Korpuslinguistik live“ anhand seiner zwei Ansprachen — mit geringer Verzögerung — überhaupt möglich ist. Zu untersuchen sind:

im Bundestag.

Korpus

Beide Ansprachen wurden öffentlich übertragen und sind als Audio- bzw. Videocasts über verschiedene Quellen zu beziehen. Den Wortlaut der Ansprachen gibt das Bundespräsidialamt heraus. Als Linguist ist man in der recht komfortablen Lage, dass man weder hinsichtlich der Bereitstellung des Materials, noch wegen der vom fragendenden Interesse abhängigen Passgenauigkeit der medialen Form der Ansprachen unüberschaubaren Aufwand betreiben muss. Natürlich ist das Korpus nicht repräsentativ und damit alles andere als statistisch auswertbar. Aber mit einigen Werkzeugen und bildgebenden Verfahren kann man nicht nur mit einer „Korpuslinguistik live“ sondern zugleich einer „Korpuslinguistik light“ einige sprachliche Strukturen und Phänomene herausarbeiten, die in weiterführenden Überlegungen möglicherweise dann mehr als erste Hypothesen erlauben.

Beide Ansprachen habe ich, zur Vorbereitung, in separaten Textdateien abgespeichert; von Umlauten, Satzzeichen, Sonderzeichen, Binde- und Gedankenstrichen und nummerischen Zeichenfolgen befreit. Die Ansprache nach der Wahl umfasst als Text insgesamt 641 Token (Textwörter) auf 335 Types (Wörter), die Ansprache nach der Vereidigung insgesamt 1.766 Token auf 817 Types, das gesamte Korpus hat einen Umfang von 2.407 Token auf 1.007 Types (ermittelt mit AntConc).

Wordcloud

  

Bereits die Wordclouds für diese beiden kurzen Ansprachen zeigen deutliche Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede auf. Hochwertwörter wie Verantwortung, Freiheit, Gerechtigkeit, Glück, Vertrauen Menschen, Europa, Demokratie, (Deutsch-)Land usw. darf man von einer Rede des Bundespräsidenten erwarten. Differenziertere Aussagen sind allerdings anhand dieser Clouds nicht möglich.

Sprachliche Strukturen

Strukturen in Texten visualisiert man am besten mit GraphViz. Auch dieses Werkzeug kam hier schon zum Einsatz und wird daher nicht noch einmal im Detail beschrieben. Auf einen Verdacht hin habe ich nach dem Lesen einen Text genauer durchgesehen, nämlich den, der Grundlage der Ansprache nach der Wahl war, und in der Visualisierung bereits einige Elemente farbig hervorgehoben. Darauf komme ich gleich im Anschluss noch einmal zu sprechen.

Anstatt nun beide Ansprachen weiter zu verfolgen, blicken wir zunächst auf die kurze Rede, die Gauck nach der Wahl hielt. Die stabile Verbindung Glück der X, die bei Clustering und Analyse von n-Grammen ins Auge sticht, wird in dem kurzen Text insgesamt vier Mal realisiert. Das lässt die Anschlussfrage zu, ob Gauck häufig auf dieses Muster zurückgreift. Abstrahiert man das Muster weiter — nämlich hin zur Analyse der Genitivattribute generell — fällt die Anzahl der Phänomene noch schwerer ins (allerdings keinesfalls statistische!) Gewicht: Substantivische Genitivattribute in der Rede Joachim Gaucks nach der Wahl zum Bundespräsidenten. Nun ziehe ich noch einmal vergleichsweise auch die zweite Ansprache, die Gauck heute nach der Vereidigung hielt, hinzu. Auch hier zeigt sich ein ähnliches Bild.

Das substantivische Genitivattribut

Interessanterweise — so könnte man sehr überspitzt und mit aller Vorsicht hypothetisch formulieren — weist der signifikant häufige Gebrauch von Genitivattributen Joachim Gauck (und/oder den Redenschreiber) möglicherweise sowohl als einen Mann des Ostens als auch zugleich als einen Mann der Kirche aus. In Bezug auf die erste Einschätzung sei an die Analysen von Noah Bubenhofer zum Wortschatz der Parteien Bündnis90/die Grünen und der Partei die Linke erinnert. In repräsentativen Korpora arbeitete er dabei als Sprachmuster für die Linke heraus, dass diese signifikant häufig und damit nicht zufällig das substantivische Genitivattribut gebrauche; ich hatte hier gemutmaßt, dass es möglicherweise ein sprachliches Muster sein könnte, das in Verbindung zu setzen sei mit zahlreichen Direktübersetzungen aus dem Russischen, die alle mittels Genitivattribut realisiert wurden und damit entsprechend auch Rede- und Sprachmuster und -gewohnheiten und Sprachbiographien ‚im Osten‘ geprägt haben dürften. Auch für die zweite Hypothese, dass hier ein Mann der Kirche spreche, stehen quantitative Untersuchungen noch aus. In einem Vortrag mit dem Fokus auf der Rolle der christlichen Kirchen als Akteuren im Diskurs „Palliativmedizin und Sterbehilfe“ hatte ich Konstruktionen mit substantivischem Genitivattribut (X des Lebens) analysiert und sie als typisch für diesen Diskursausschnitt im Vergleich zu anderen Domänen charakterisiert.

Ausblick

Der „Sprachpunkt“ will eine Brücke zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit schlagen. Zwar kann eine solche „Korpuslinguistik ‚light'“ hinsichtlich ihrer Schlüsse wissenschaftlich nicht ganz ernst gemeint sein, das soll sie auch nicht. Sie will Fragen stellen. Und auch die Hypothesen halten angesichts der dürren Datenlage, die noch nicht einmal erlaubt, über Koinzidenzen und Korrelationen in angemessener Weise nachzudenken geschweige denn zu sprechen, keiner kritischen Frage stand. Aber dafür sind Hypothesen ja geeignet — sie erlauben es, Anschlussfragen zu formulieren und in weiteren Schritten mit einem besonderen Zuschnitt größere Datenmengen unter die Lupe zu nehmen.

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  1. Ein Jahr “Sprachpunkt” | Alexander Lasch - 14. September 2012

    […] 03 (224) — Mann des Ostens, Mann der Kirche — Joachim Gauck und das Genitivattribut in einer “Korpuslinguis… […]

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