Wer darf das Wort „Zensur“ im Munde führen?

26. Februar 2013

Sprachpunkt

Obdachloser (by Eric Pouhier).

Christoph Schäfer liegt mit seinem Artikel „Politisch korrektes Deutsch: Verbände wollen ’soziale Unwörter‘ zensieren„, heute in der FAZ im Ressort „Wirtschaftspolitik“ erschienen,  nicht nur haarscharf daneben. Er wirft „Sprachwächtern“ vor, ’soziale Unwörter‘ aus dem „Sprachgebrauch verbannen“ zu wollen. Die vermeintlichen „Sprachwächter“ sind die Vertreter der Armutskonferenz, die anregen, insgesamt 23 abwertende Begriffe nicht mehr zu verwenden. Allerdings wollen sie diese nicht „verbannen“, sondern der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (nak) Thomas Beyer „fordert auf, die Verbreitung von Klischees über arme Menschen zu vermeiden“ (Quelle). Diese werden auch über „Unwörter“ (über den Begriff könnte man streiten) transportiert. Interessant ist, wie die Liste zustande kam:

„Die Nationale Armutskonferenz (nak) hat unter ihren Mitgliedsorganisationen eine Umfrage durchgeführt, welche Begriffe in den Medien, in der Politik und in der breiten Öffentlichkeit benutzt werden, mit denen Menschen in ihrer Lebenssituation falsch beschrieben, schlimmstenfalls sogar diskriminiert werden.“

Wir reden hier also nicht über die Zensurabsichten eines lebensfernen Gremiums, das in der Form des Vereins organisiert ist, sondern über die Ergebnisse einer Umfrage. Denn:

„Sprache ist nicht neutral, Sprache bewertet. Vor diesem Hintergrund sollten wir alle Sprache so nutzen, dass sie keine Klischees (re)produziert“, sagt Thomas Beyer, Sprecher der nak. Dies gelte insbesondere im Umgang mit Menschen, die von Armut betroffen oder bedroht sind.“

Damit hat Thomas Beyer recht: Mit Sprache unterscheidet man; nicht immer geht es dabei wertneutral zu. Die ’sozialen Unwörter‘ wurden also von den Betroffeneninitiativen vorgeschlagen und spiegeln wider, bei welcher Anrede sich Menschen negativ bewertet oder gar diskriminiert fühlen (können) . Und das sind sie, die Wörter, deren ‚Verbannung‘, die niemand fordert, den ‚Reichtum unserer Sprache‘ schmälern würde :

  1. Alleinerziehend (=Sagt nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität aus. Beides wird jedoch häufig mit „alleinerziehend“ assoziiert)
  2. Arbeitslos/Langzeitarbeitslos (=Es sollte erwerbslos heißen, weil es viele Arbeitsformen gibt, die kein Einkommen sichern 
  3. Arbeitslose sind eine engagementferne Gruppe (=Damit wird nahegelegt, dass Erwerbslose sich nicht ehrenamtlich engagieren. Dagegen spricht schon die Vielzahl an Selbsthilfegruppen etc., in denen Erwerbslose aktiv sind)
  4. Behindertentransport (=Objekte werden transportiert, Menschen aber werden befördert)
  5. Bildungsferne Schichten (= Gemeint ist – und das sollte man auch sagen – „Fern vom Bildungswesen“ oder „vom Bildungswesen nicht Erreichte“)
  6. BuT’ler („butler“) (=Gemeint sind Nutzer des Bildungs- und Teilhabepakets der Bundesregierung. Der Ausdruck ist ähnlich reduzierend und deshalb diskriminierend wie „Der/Die ist Hartz IV“. Abschätzig ist er auchwenn er englisch ausgesprochen wird: Butler=Diener)
  7. „Der/Die ist Hartz IV“ (=Wer Grundsicherung – im Volksmund Hartz IV – erhält, wird darauf reduziert. Außerdem wird häufig mit dem Begriff assoziiert, Empfänger von Sozialleistungen seien arbeitsscheu und generell unfähig)
  8. Ehrenamtspauschale (=Richtig müsste es Ehrenamtseinkommensteuerpauschale heißen, denn besagte Pauschale kann nur entgegennehmen, wer eine Steuererklärung abgibt. Gerade arme Menschen können dies aber nicht, weshalb sie auch diese Entschädigung nicht erhalten)
  9. Eingliederungsverfahren (=Menschen außerhalb von pathologischen oder resozialisierenden Prozessen müssen sich nicht erst eingliedern)
  10. Flüchtlingsfrauen (=Überflüssig, weil das Wort Flüchtlinge beide Geschlechter umfasst. Ansonsten: ähnlich diskriminierend wie Arztgattin)
  11. Herdprämie (=diskriminierend, weil der Begriff unabhängig von der Positionierung gegenüber dem gemeinten Betreuungsgeld Frauen verunglimpft)
  12. Illegale (=Diesem Begriff ist tatsächlich nur die Losung entgegenzuhalten: „Kein Mensch ist illegal“)
  13. Massenverwaltbarkeit (=Wurde vom BMAS genutzt, wenn Individualisierungswünsche bei der Anwendung von SGB II abgewehrt werden sollten)
  14. Missbrauch (=Ist im Zusammenhang mit Sozialrecht und Sozialstaat – beispielsweise Missbrauch von Hartz IV – eine ungute Vokabel, weil damit ein schwerwiegender sexueller Straftatbestand assoziiert wird)
  15. Notleidender Kredit (=Wenn der Darlehensnehmer die Raten nicht mehr zahlen kann und das Darlehen infolgedessen gekündigt wird, gilt der Kredit als notleidend. Letzteres dürfte allerdings eher auf den Menschen in Zahlungsschwierigkeiten zutreffen)
  16. Person mit Migrationshintergrund (=Häufig wird damit „einkommensschwach“, „schlecht ausgebildet“ und „kriminell“ in Zusammenhang gebracht. Während mit diesem Begriff Klischees reproduziert werden, wird er der sehr unterschiedlichen Herkunft der so Bezeichneten nicht gerecht)
  17. Person mit Migrationshintergrund ohne eigene Migrationserfahrung =(Siehe 16)
  18. Sozial Schwache (=Wer kein/wenig Geld hat, ist ökonomisch schwach, aber nicht sozial schwach)
  19. Sozialschmarotzer
  20. Trittbrettfahrer (=Wird auch für Menschen benutzt, die ein schwerwiegendes Delikt wiederholen oder davon profitieren)
  21. Vollkasko-Mentalität
  22. Wirtschaftsasylanten
  23. Wirtschaftsflüchtlinge

Alle diese Begriffe sind diskussionswürdig und aus linguistischer Perspektive sind auch die Alternativen bemerkenswert. Spannend ist, dass feine Bedeutungsnuancen berücksichtigt werden — das wird besonders deutlich beim Gegensatzpaar arbeitslos vs. erwerbslos. Auch in Bezug auf alleinerziehend haben die Befragten feines Gespür für die Nebentöne, auch wenn leider keine Alternative präsentiert wird. Ähnliches gilt für die anderen ‚Unwörter‘, die man zumindest hinsichtlich ihrer Begriffsintensionen und -extensionen genauer unter die Lupe nehmen sollte. Das einzige ’soziale Unwort‘ der Liste, das hier vermutlich fehl am Platze ist, ist „Missbrauch“. Dies aber auch nur, weil es eben auch in anderen Kontexten Verwendung findet und man hier erst genauer untersuchen müsste, ob die Verwendung in sozialpolitischen Kontexten tatsächlich spezifisch ist (oder zumindest negative Begriffsinhalte billigend in Kauf genommen werden). An der Liste wird deutlich, dass als ‚diskriminierend‘ wahrgenommene Sprache häufig subtiler Natur ist.

Diese Idee, die im Wesentlichen also nur zum Nachdenken über bestimmte, den öffentlichen Diskurs prägende Begriffe anregen will, stuft Schäfer als Zensurvorhaben ein:

„Die Nationale Armutskonferenz will die deutsche Sprache verarmen lassen – und letztlich Zensur üben. […] In der Sprache aber soll nun radikal aussortiert werden. Die Armutskonferenz hat nun eine ‚Liste der sozialen Unwörter‘ veröffentlicht.“

Von einer solchen Absichtserklärung ist bei Beyer nichts zu lesen — es geht Schäfer aber auch nicht darum, das Anliegen differenziert zu beschreiben. Die Entstehungsgeschichte der ‚Liste‘ wird mit keiner Silbe erwähnt, statt dessen werden die einzelnen Begriffe kurz aufgegriffen und hinsichtlich ihres Diskriminierungspotentials als unbedenklich eingestuft.

Beispiel: „alleinerziehend“

„„Alleinerziehend“ beispielsweise ist ein „soziales Unwort“, um dessen Fatalität bislang vermutlich kaum jemand wusste. Die Armutskonferenz stört daran, dass es „nichts über mangelnde soziale Einbettung oder gar Erziehungsqualität“ aussage.“

Beispiel: „Menschen mit Migrationshintergrund“

„Seit das Wort „Ausländer“, mit dem Juristen in Deutschland lebende Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft bezeichnen, durch den politisch korrekten Begriff „Menschen mit Migrationshintergrund“ ersetzt wurde, dürften auch Wohlmeinende daran eigentlich nichts Prekäres mehr finden. Die Sprachwächter der Armutskonferenz sehen es anders. Sie stört, dass der Terminus „Person mit Migrationshintergrund“ in den Medien, der Politik und der breiten Öffentlichkeit „häufig mit einkommensschwach, schlecht ausgebildet und kriminell in Zusammenhang gebracht“ werde“.

Ob dem so ist, kann Schäfer genau so wenig beantworten wie die befragten Mitglieder, die von ihrer eigenen Erfahrung sprechen. Korpus- oder diskurslinguistische Studien hat weder die eine noch die andere Seite angestrengt. Anstatt das Thema aber als Gegenstand einer spannenden Fragestellung aufzunehmen, unterstellt Schäfer den „Sprachwächtern“ Inkompetenz und nörgelnde Arroganz. Dabei ist er es, der das Anliegen 1) in ein falsches Licht stellt und 2) die für diesen Zusammenhang unpassenden ‚Unworte‘ „Zensur“ sowie „Sprachwächter“ als Stigmaworte aufruft. Was sich Christoph Schäfer dabei gedacht hat? Das kann man nur schwerlich erschließen. Der Artikel ergibt nicht einmal dann Sinn, wenn man mutmaßt, dass er einfach im Fahrwasser der aktuellen Diskriminierungsdiskussionen einen Artikel platzieren wollte. Möglicherweise ist es aber auch gerade einfach nur angesagt, vermeintliche „Sprachnörgler“ zu beschimpfen — dabei können alle mitmachen, wie die Kommentare zeigen. Andererseits gibt auch der Veröffentlichungsort ein Hinweis auf die Intention: das Wirtschaftsressort. Dort hat Schäfer (oder die Redaktion) den Artikel versteckt. Was er dort wohl zu suchen hat? Angesichts der ‚Unworte‘ auf der Liste könnte man hier einige Vermutungen anstellen.

Diskriminierung durch Sprache, Ignoranz, Stigmatisierung

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44 Kommentare - “Wer darf das Wort „Zensur“ im Munde führen?”

  1. Struppi Sagt:

    Zensur ist eines der Schlagwörter der Nörgler und Schlechtmenschen (sie bezeichnen gerne andere als Gutmenschen) und sie verkennen dabei, dass Zensur eine staatliche Kontrolle oder ein staatliches Verbot bedeutet. Eine Gesellschaftliche Ächtung ist keine Zensur, allerhöchstens ein Tabu.

    Ich frage mich aber, warum manche unbedingt ein Tabu brechen wollen, bei dem es lediglich darum geht Begriffe zu verwenden, die andere als diskriminierend oder beleidigend empfinden?

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Ich bin mir nicht ganz sicher, worauf Sie hinauswollen — geht es um die Begriffsverwendung von „Zensur“ durch Schäfer? Das ist ganz klar als Stigmawort gebraucht, um das Anliegen eines Gegners zu diffamieren. Das Hochwertwort in diesem ZUsammenhang ist (Presse-)Freiheit, die hier aber nicht bedroht ist. Schäfer versucht nur den Eindruck zu erwecken, dass sie bedroht sei, was für einen Jounralisten allerdings nicht lauter ist.

      Antwort

      • KamoseTao Sagt:

        Nun – solange Polemik, Sarkasmus , Ironie in diesem Land noch als Stilmittel der Debatte zugelassen sind, werden auch in Zukunft Worte sehr wohl auch in abwertender Weise verwendet werden. Somit kann gerne über Nuancen gestritten werden, aber jede Empfehlung , Worte „nicht zu verwenden“ , ist auch in meinen Augen der Versuch, die Sprache einzuschränken. Gerade die unterschiedliche Bezeichnung ein und desselben Debattengegenstands macht die unterschiedliche Haltung von Debattierern klar.
        Desweiteren, verehrter Herr Lasch , rate ich ab, Unterstellungen ad hominem (hier Schäfer) zu richten, denn über die Intentionen Schäfers können sie allenfalls vermuten. Mit der Verwendung von Begriffen wie „will….diffamieren“…stellen Sie sich auf die gleiche Stufe, die Sie doch zu bekämpfen wünschen.

        Antwort

        • Alexander Lasch Sagt:

          Das ist eine sehr optimistische Hoffnung, die davon getragen wird, dass sich alle die, die einen Begriff verwenden, sich immer im Klaren darüber sind, welche Bedeutungsdimensionen er umfasse. Natürlich wäre das wünschenswert und würde manche Diskussion deutlich entschärfen. Insofern ist ein hinweisen auf nicht wertneutrale Verwendungsvarianten immer sinnvoll. Ob die Vorschläge und Hinweise angenommen werden müssen oder sollen, steht auf einem ganz anderen Blatt — darüber diskutieren soll aber möglich sein. Nichts anderes passiert ja hier.

          Die Verkürzung von Autorsignatur, Autorsubjekt und sozialem Subjekt ist nicht rechtens — das stimmt. Idealerweise hätte ich jedes Mal schreiben müssen: „Der Text von Christoph Schäfer etc.“ Die Schlüsse, die ich in den Artikel einbeziehe, basieren alle auf der Interpretation des Textes (von Christoph Schäfer). Dass ich mich dazu hinreißen ließ, dennoch zu verkürzen, mag mit dem Ärger damit zusammenhängen, dass ausgerechnet die, die die demokratischen Freiheiten auf den Fahnen vor sich hertragen, mit ihren Texten diejenigen angreifen, die an der Freiheit partizipieren wollen. Das ist nicht lauter.

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      • struppi Sagt:

        Ja, es ging um den Begriff – der ja auch zuletzt bei der „Kinderbuchdebatte“ von vielen Zeitungen verwendet wurde – der als Argument dafür benutzt wird, ein evtl. drohendes oder schon vorhandenes Tabu (wer kann heute noch wertfrei den Begriff Neger verwenden?) missachten zu wollen.

        Wenn es um Diffamierung oder eher Sarkasmus geht, tendiere ich eher zu ersterem. Es soll den Menschen, die bestimmte Begriffe gerne vermeiden würden, ein Wunsch nach einer staatlichen Kontrolle unterstellt werden.

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        • Alexander Lasch Sagt:

          Wenn ich Sie richtig verstehe, dann unterlaufen z.B. Medien Tabuisierungsprozesse, wenn Sie die, die die Tabuisierung (im Falle von „Neger“ aus sehr, sehr guten Gründen) mittragen, als „Sprachpolizisten“ bezeichnen und damit mit einem Stigmawort belegen? Da bin ich sofort bei Ihnen.

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  2. Dominik Sagt:

    Warum wird das(,) hier(:)

    11. Herdprämie (=diskriminierend, weil der Begriff unabhängig von der Positionierung gegenüber dem gemeinten Betreuungsgeld Frauen verunglimpft)

    so umkommentiert stehen gelassen?

    Der Begriff „Herdprämie“ ist, so wie ich ihn bisher verstanden habe, ein von ihren Gegnern konstruiertes Stilmittel, das genau auf die diskriminierende Funktion einer „Herdprämie“ hinweisen soll.
    Folglich ist der Begriff nicht „unabhängig von der Positionierung gegenüber dem gemeinten“, sondern kann abhängig davon eine diskriminierende oder antidiskriminierende Funktion haben.

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    • Dolph Sagt:

      Danke, ich wollte gerade genau diesen Kommentar in vergleichbarer Form verfassen. Das offenbart einfach eine intellektuelle Unterbelichtung (bestimmt auch ein ganz entsetzlich „böser“ Begriff…), die jedem halbwegs alerten Leser körperliche Schmerzen bereitet.

      Antwort

      • Alexander Lasch Sagt:

        Nein, keinesfalls. Da würde ich widersprechen, da die Lage etwas komplizierter ist. Der Begriff „Herdprämie“ spielt (nicht nur verdeckt, sondern offen) mit diskriminierenden Alltagssexismen: Im politischen Diskurs referieren damit die Gegner des Betreuungsgeldes auf eine (vermeintliche) Haltung und Einstellung der Befürworter des Betreuungsgeldes gegenüber Frauen und ihrer Rolle in der Gesellschaft. Es ist politisches Spiel mit dem Ziel der Gewinnung eines Vorteils durch die Stigmatisierung des Gegners. Adressiert werden folgerichtig auch nicht die politischen Gegner, sondern das Publikum — die Wähler. Und hier kann ein Begriff noch ganz andere Wirkungen entfalten, wenn diese Herkunft des Begriffs nicht mehr deutlich heraustritt. Edit: Man stelle sich nur einen konkreten Kontext in einem Amt/einer Agentur vor, in dem ein/e AntragstellerIn mit den Worten begrüßt wird: „Setzen Sie sich erst mal. Sie wollen also die Herdprämie beantragen“.

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    • Alexander Lasch Sagt:

      Vielen Dank für den Hinweis. In dem kurzen Blogartikel habe ich nicht alle Begriffe diskutieren können, obwohl das sicher eine lohnende Aufgabe wäre (deshalb die Aufforderung im Text): „Herdprämie“ ist deshalb reizvoll, weil in der „Liste abwertender Begriffe“ der ursprüngliche kommunikative Kontext, nämlich der öffentliche politische Diskurs, ausgeblendet wird. Ob es dort als Stigmawort gebraucht wurde, um eine Idee des politischen Gegners abzuwerten, spielt in anderen Kontexten keine (entscheidende) Rolle mehr. Denn hier entfaltet eine Konnotation des Begriffs dessen Diskriminierungspotential im Wesentlichen dadurch, dass Alltagssexismen (die drei K: Kinder, Küche, Kirche // http://de.wikipedia.org/wiki/Kinder,_K%C3%BCche,_Kirche // http://goo.gl/snZsU) aufgerufen werden. Also ja: Ob ein Begriff als diskriminierend/nicht diskriminierend wahrgenommen wird, ist von zahlreichen Faktoren (Adressierung, kommunikativer Kontext, Wissen um neutrale und wertende Aspekte von Begriffen) abhängig. Auf einzelne Aspekte weist in diesem Zusammenhang auch immer wieder Anatol Stefanowitsch hin (etwa jüngst hier: RASSISMUS „RASSISMUS“ NENNEN // http://www.sprachlog.de/2013/02/27/rassismus-rassismus-nennen/). Der erläuternde Kommentar in der Liste hebt den Unterschied zwischen den kommunikativen Domänen nicht deutlich genug heraus, da haben Sie recht.

      Antwort

  3. Chris Sagt:

    Vielen dank für diesen Artikel!
    Über die Kommentare bei der FAZ könnte man sich amüsieren, wenn es nicht so traurig wäre. Wo kämen wir denn auch hin, wenn wir so sprechen, dass wir niemanden mit bestimmten Ausdrücken verletzen!
    Was die ganzen „politisch Inkorrekten“ allerdings übersehen, ist, dass durch eine Abänderung des Begriffes dieser auch genauer definiert werden kann (z.B. Erwerbslos statt Arbeitslos, …), aber mit solchen Kleinigkeiten kann man sich natürlich nicht beschäftigen, wenn man am Stammtisch gegen die „Orwell’sche Diktatur“ (ich frage mich, wieviele der Kommentare das Buch gelesen und verstanden haben) kämpfen.

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Dass solche „Argumente“ überhaupt in der Art und Weise vorgebracht werden können, liegt aber auch daran, dass sich Linguisten leider nicht ans Fenster wagen und mit ihren Positionen öffentlich nicht sichtbar sind bzw. einfach die Regeln der öffentlichen Kommunikation im Netz nicht achten: Der „Bericht zur Lage der deutschen Sprache“ etwa, der im Wesentlichen den Common Sense der Forschung widerspiegelt, wurde am Samstag, den 02.03.2013, zwar unter Anwesenheit der Presse vorgestellt (stellvertretend: die WELT // http://goo.gl/w33Er), allerdings bisher nirgends (!) online publiziert. So bleiben die einzelnen wissenschaftlich fundierten Positionen ohne Breitenwirkung und können nicht als Argumentationsstützen dienen.

      Antwort

  4. Bernd Sagt:

    Mit Teilen der Liste kann ich mich (als Redakteur und Journalist) anfreunden, mit anderen nicht.

    So sind die Alternativen zu #2 und #8 in meinen Augen eine gute und hilfreiche Präzisierung. Und #3, #13 sowie #17 verbieten sich alleine schon aus stilistischen Gründen (furchtbares Beamtendeutsch). #19 und #22 sind eher Kampfbegriffe, die außerhalb vielleicht der Bildzeitung nichts zu suchen haben. #4 geht natürlich auch gar nicht (in so einem Fall hilft es wirklich, den Alltags-Sprachgebrauch einmal kritisch zu reflektieren!)

    Aber in vielen Fällen ist die Liste auch Wortklauberei, so besonders #1, #5 und #14. LG

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Keine Frage, mit manchen Begriffen schießt man über das Ziel hinaus und die Herkunft und die kommunikativen Anwendungsbereiche der einzelnen ‚Unwörter‘ ist äußerst heterogen. Hier müsste man, wollte man systematisch an das Problem herangehen, feiner differenzieren. Allerdings sind — wie Sie sagen — einige interessante Kandidaten dabei, die wie „arbeitslos“ und „Behindertentransport“ auch ganz klar pejoratives bzw. sogar diskriminierendes Potential haben. Dass eine Diskussion der Begriffe keinesfalls so nebensächlich ist, sieht man an „Ehrenamtspauschale“ — Michael Schneider erläutert dies oben in seinem Kommentar (http://goo.gl/UqDha), der allerdings keine Antwort auf Sie ist, da ich beide Kommentare zeitgleich freigeschaltet habe.

      Antwort

  5. Michael Schneider Sagt:

    Bei Punkt 8 („Ehrenamtspauschale“) ist sowohl der Ersatzbegriff unklar, als auch die Begründung sachlich falsch. Der korrekte Begriff (nachzulesen im Einkommensteuergestz) lautet „Pauschale Einnahmen aus nebenberuflichen Tätigkeiten im Dienst oder Auftrag einer juristischen Person des öffentlichen Rechts, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat belegen ist, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, oder einer unter § 5 Absatz 1 Nummer 9 des Körperschaftsteuergesetzes fallenden Einrichtung zur Förderung gemeinnütziger, mildtätiger und kirchlicher Zwecke“.

    Zur Entgegennahme dieser Leistung braucht keine Steuererklärung abgegeben werden, sie sind bis zu 720 EUR/Jahr steuerfrei. Die Abgabe einer Erklärung ist nur notwendig, falls jemand von mehreren Einrichtungen derartige Leistungen erhält und dadurch die Freigrenze (720 EUR) überschritten wird.

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Haben Sie vielen Dank für die Ergänzung — ich habe sie hier (http://goo.gl/RrntT) mit einfließen lassen.

      Antwort

    • Michael Schneider Sagt:

      Nachtrag (zur Klarstellung):
      § 3 Nr. 26a EStG betrifft zuerst nur den Empfänger der Leistungen und definiert den Rahmen, in welchem diese Gelder steuerfrei bleiben. Die indirekte Wirkung geht weit darüber hinaus.
      Früher (vor 2007) waren die Finanzämter sehr streng bei der Prüfung von Geldflüssen vom Vereins an seine Mitglieder. Dies führte dazu, dass die meisten gemeinnützigen Vereine aus Angst vor dem Verlust der Gemeinnützigkeit keinerlei Vergütungen zahlten. Stattdessen wurden gerne (rechtlich grenzwertige) Sachspendenquittungen an verdiente Mitglieder ausgeteilt. Davon profitierten in der Tat nur Personen, die zu versteuerndes Einkommen erzielten.

      Mit der Einführung der „Ehrenamtspauschale“ hat der Gesetzgeber klargestellt, dass auch gemeinnützige Vereine Leistungen vergüten dürfen, wodurch „angstfreie“ Zahlungen des Vereins -auch an Wenigverdiener- möglich geworden sind.

      Antwort

  6. Dr. Golz Sagt:

    Lobenswerter und wichtiger Text. Und ein notwendiger Kommentar zum Artikel von Christoph Schäfer.

    Einen Einwand habe ich gegen die Anführung des Wortes „Missbrauch“ (#14)!

    Es gibt seit Langem die Begriffe Rechts- und Amtsmissbrauch, in dem Sinn kann es natürlich auch einen Sozialrechtsmissbrauch geben (der übrigens nicht nur von Sozialleistungsbeziehern sondern auch von den Ämtern und sachbearbeitenden Stellen ausgehen kann). Jedoch sollte das Wort „Missbrauch“ im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen vermieden, ja wirklich „verbannt“ werden. Menschen sind nach allgemeinem Verständnis keine Sache, die ge- oder eben missbraucht werden können. Vom „sexuellen Missbrauch“ zu reden, impliziert, dass es auch einen (zulässigen) sexuellen „Gebrauch“ gibt bzw. geben könnte.

    Ansonsten ist den Kritikern wie Herrn Schäfer entgegenzuhalten, dass man selbstverständlich nie aufhören darf, über die Verwendung und Bedeutung der Sprache nachzudenken. Und gerade Journalisten haben die Verpflichtung, ihre Ausdrucksweise besonders sorgfältig und bewusst zu wählen.

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Haben Sie vielen Dank für die Explikation. In der Tat ist „Missbrauch“ in der Liste diskussionswürdig: In institutionellen Kontexten wird es, so lange es nicht andere (politische) Absichten verdecken soll, wertneutral und technisch verwendet. Umgangssprachlich jedoch dürfte das anders aussehen (nicht repräsentative Schnellabfrage bei Google Trends // http://goo.gl/aYS99 und beim DWDS // http://goo.gl/aQGhj) — „sexuell“ ist da eines der häufigsten Kollokate von „Missbrauch“. Auf jeden Fall könnte man aus dieser Beobachtung die Frage entwickeln, ob beim Gebrauch des Wortes „Missbrauch“ im öffentlichen Diskurs hinreichend zwischen den möglichen ‚Missbräuchen‘ differenziert wird. Das scheint zumindest nicht der Fall zu sein. Ganz abgesehen davon werfen Sie noch ein ganz anderes Problem auf (‚Missbrauch‘ impliziert einen wie auch immer gearteten dann norm-konformen ‚Gebrauch‘) und die von Ihnen vorgeschlagene Lösung wäre die aus meiner Sicht interessanteste, auch wenn das mit der Aufnahme in die Liste sicher nicht intendiert war.

      Antwort

  7. Peter Pachulke Sagt:

    Person mit Migrationshintergrund (=Häufig wird damit „einkommensschwach“, „schlecht ausgebildet“ und „kriminell“ in Zusammenhang gebracht. Während mit diesem Begriff Klischees reproduziert werden, wird er der sehr unterschiedlichen Herkunft der so Bezeichneten nicht gerecht)

    Falls das so sein sollte, dann nennen wir solche Menschen doch einfach wieder „Ausländer“. Ja, warum eigentlich nicht?

    Antwort

  8. hilti Sagt:

    Hm, ich hab „Person mit Migrationshintergrund“ eigentlich nie als Ersatz für Ausländer verstanden. Es wird benutzt, weil die Politik und insbesondere die Union (Deutschland ist kein Einwanderungsland) das Wort Einwanderer scheut wie der Teufel das Weihwasser. Wobei dieses vermeintlich neutrale Wortungetüm inzwischen eher negativ besetzt ist.

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Solche Begriffsentwicklungen und Bedeutungsveränderungen lassen sich im Sprachwandel einfach nicht vermeiden (das in jeder Einleitung erläuterte Beispiel ist: mhd. frôwe / maget -> nhd. Frau / Magd). Wie könnte man dem aber entgegensteuern? Besonders das Deutsche hat aufgrund seiner Wortbildungmöglichkeiten so viele Optionen, pejorativen Begriffsentwicklungen zeitig entgegenzusteuern: Reichert ein Begriff im Sprachgebrauch (z.B. „Ausländer“) zu viele negative Konnotationen an, ersetzt man ihn zyklisch durch ein mehr oder weniger passfähiges Synonym auch im amtlichen / öffentlichen Gebrauch: Zugereister, Zugezogener, Eingereister, Eingewanderter, Einwanderer, Hergezogener, Hergereister, Gast (hier gibt es endlose Debatten über den Begriff „Gastarbeiter“) etc. Das muss überhaupt nicht deklarativ erfolgen („Wir erklären hiermit, dass das Wort „Ausländer“ hinfort nicht mehr verwendet werden soll“), sondern einfach in einer Ersetzungsroutine, die, sagen wir, alle 3 Jahre greift (was alle juristischen Texte aber ausschließt).

      Antwort

      • re2tko2vski Sagt:

        „ersetzt man ihn zyklisch durch ein mehr oder weniger passfähiges Synonym auch im amtlichen / öffentlichen Gebrauch: … Das muss überhaupt nicht deklarativ erfolgen (“Wir erklären hiermit, dass das Wort “Ausländer” hinfort nicht mehr verwendet werden soll”), sondern einfach in einer Ersetzungsroutine, die, sagen wir, alle 3 Jahre greift (was alle juristischen Texte aber ausschließt).“

        Was ich nicht verstehe: Wie soll die Ersetzungsroutine greifen, wenn nicht durch Deklaration?

        Antwort

        • Alexander Lasch Sagt:

          Ich meinte mit Deklaration im alltagssprachlichen Sinne liguistisch präziser eine Direktive, also eine amtliche Regelung. Diese könnte derzeit nur von wenigen staatlichn Institutionen ausgegeben werden. Eine solche Direktive wäre zwangsläufig eine Normsetzung und müsste, um wirksam zu sein, bei Verstoß sanktioniert werden (z. B. in der Schule). Das will ja niemand (?).
          Eine Absichtserklärung z. B. von einer Gruppe von Verlagen, Journalistinnen und Journalisten, einer Interessengruppe im Netz etc. kann natürlich auch deklarativen Charakter haben, aber sie wäre nicht direktiv, sondern selbstverpflichtend. Und diese meist im Konsens erarbeiteten Erklärungen sind in der Praxis wahrscheinlich erfolgreicher.

          Betonung liegt auf: wahrscheinlich.

          Antwort

          • re2tko2vski Sagt:

            „wäre nicht direktiv, sondern selbstverpflichtend. Und diese meist im Konsens erarbeiteten Erklärungen“

            Und damit sind wir genau bei Ihrem (und St.’s) Denkfehler:

            In der Realität sind nämlich „Selbstverpflichtungen“ auch nur Regelungen, die von der Unternehmens- oder Organisationsleitung den Betriebsmitarbeitern von oben auferlegt werden.

            Was ich nicht verstehe: Warum halten Sie eine STAATLICHE Direktive, die ja in unserem Staat (zumindest theoretisch) nur durch (repräsentativen) Mehrheitsbeschluss zustandekommen kann, für undemokratisch, aber eine Direktive durch in keinster Weise demokratisch legitimierte Unternehmensleitungen für demokratisch? Es ist wie bei der Frauenquote: eine freiwillige Selbstverpflichtung der Industrie geschieht natürlich auch über die Köpfe der männlichen Angestellten hinweg. Die Bosse, die das beschließen, sind zwar auch männlich, aber nur eine kleine Minderheit.

            Antwort

            • Alexander Lasch Sagt:

              Das ist, glaube ich, kein Denkfehler, sondern immer stille Hoffnung und vor allem Überzeugung. Sprachverhalten lässt sich per Dekret von oben nicht durchsetzen — ich habe nicht gesagt, dass der Staat und seine Institutionen nicht demokratisch legitimiert seien. Vielmehr ist es so: Wandel setzt dann ein, wenn viele SprecherInnen den Wandel (ob bewusst oder unbewusst) aus ganz verschiedenen Gründen mitvollziehen. Deshalb ist eine auf vielen Schultern getragene Absichtserklärung vermutlich effektiver als ein Misterialbeschluss. Auf die Details könnte man jetzt noch weiter eingehen, die kognitive Linguistik (Framesemantik / Konstruktionsgrammatik) hat hier jüngst sehr interessante Ansätze vorgelegt, wie man Orientierungsprozesse von SprecherInnen modellieren kann (joint attention, entrenchment, Übernahme von Überlegungen zur swarm intelligence).

              Antwort

              • re2tko2vski Sagt:

                „Sprachverhalten lässt sich per Dekret von oben nicht durchsetzen.“

                Doch, es geschieht in der Realität jeden Tag.

                Haben Sie denn noch nie etwas von Unternehmensterminologie, kontrollierter Sprache, Corporate-Wording oder Sprachregelung gehört?

                Erst dann, wenn man soviel auf einmal verändern will, dass die Leute intellektuell nicht mehr mitkommen, wird es unmöglich. Ansonsten kommt es nur darauf an, wieviel Autorität die Veränderer haben.

                Antwort

                • Alexander Lasch Sagt:

                  Doch, habe ich (siehe den anderen Kommentar). Und zum Problem: Das ist systematisch eine ganz andere Ebene (Kritik an funktionalen Stilen bzw. Vaietäten) und muss daher anders angegangen werden.

              • re2tko2vski Sagt:

                Ich wollte das Thema eigentlich noch weiterdiskutieren, doch offenbar ist die Schachtelungsgrenze erreicht. Da kann ich nur noch auf den entsprechenden Aufsatz in meinem Blog verweisen, falls Sie sich den antun wollen:

                Sprachwandel, Rechtschreibung, Aussprache und die neue Sprachideologie

                Antwort

  9. re2tko2vski Sagt:

    „Möglicherweise ist es aber auch gerade einfach nur angesagt, vermeintliche ‚Sprachnörgler‘ zu beschimpfen“

    Na hoffentlich liest das nicht der Stefanowitsch…

    Wenn der merkt, dass Sie die Bezeichnung „Sprachnörgler“ auf die Guten verwenden, während er das Wort für die Bösen reserviert hat… Diese terminologische Verwirrung macht ja seine ganze Arbeit kaputt.

    Antwort

    • Alexander Lasch Sagt:

      Ich denke, dass er mir das nachsehen wird, da ich nicht glaube, dass ich damit „seine ganze Arbeit kaputt“-mache 😉

      Antwort

      • re2tko2vski Sagt:

        Herr Stefanowitsch bekämpft ja die von ihm so genannten „Sprachnörgler“ und „Sprachpuristen“. Diese Bezeichnungen sind bei ihm mit ausgesprochen negativen Begriffen belegt, also eigentlich Beispiele für diskriminierende Sprache. Nach seiner Auffassung muss man aber auf jede Bezeichnung verzichten, durch die sich jemand diskriminiert fühlen könnte. Ich fühle mich durch Stefanowitsch diskriminiert. Also widerspricht er sich wieder mal selbst. Vielleicht können Sie ja mal auf ihn einwirken, dass er nur noch die nichtdiskriminierende Bezeichnung „Sprachpfleger“ verwendet.

        Antwort

        • Alexander Lasch Sagt:

          Wenn Sie sich persönlich von Anatol Stefanowitsch angegriffen fühlen, dann wenden Sie sich bitte direkt an ihn — auf Twitter reagiert er relativ prompt (@astefanowitsch) 😉 Und im Ernst: Die Debatte ist eine politische, da wird mit anderen Bandagen gekämpft als im höflichen Miteinander. Das wirkt angesichts eines scheinbar so banalen Gegenstands wie der „Sprache“ von außen manches Mal sicher recht eigenwillig (erklärt vllt. auch manches Kopfschütteln in Bezug auf die Bemühungen, strukturelle Sexismen in der Sprache abzubauen), hat aber eine lange Tradition: Für das Deutsche gut dokumentiert sind die Auseinandersetzungen zwischen Sprachwissenschaftlern (‚Grammatikern‘) und Sprachpuristen seit dem 17. Jahrhundert, auch wenn die Streitereien weit länger zurückreichen. Kurz gesagt dreht sich der Streit immer darum, wie Veränderungen der Sprache im Wandel bewertet werden sollen. Die konservative Sicht, die der Sprache zu einem (nie existenten) Idealzustand zurückverhelfen will (da sie in desaströsem Zustand und fürchterlich krank und bald tot sei), kommt dabei im Allgemeinen (nicht in der Fachwelt) besser an: So wie früher das Fernsehen, die Autobahnen, die Winter und Sommer besser waren, so eben auch die Sprache. Um bei dem Bild zu bleiben: Meteorologen, Wissenschaftler, die tagtäglich sich mit Wetterprognosen herumschlagen, weil das gesellschaftlich erwartet wird, aber eigentlich wissenschaftlich kaum jemanden interessiert, kommen gegen einen Rudi Carell mit „Wann wird’s mal wieder richtig Sommer“ kaum an. Vorhersage, Regenradar, Wolkenradar, Temperaturprognosen für die nächsten 47 Tage — alles statistisch valide abgesichert und trotzdem kaum hörbar, wenn irgendwo im Radio die Zeile durchdringt „ein Sommer, wie er früher einmal war“.

          Anders ist — strukturell gesehen — die Debatte um Sprache und deren Wandel auch nicht. Das erkennt man daran, dass die meisten Stigmawörter, die hier zum Einsatz kommen, Komposita sind, deren Erstglied man (zum Teil) auch einfach durch ein anderes ersetzen kann, zum Beispiel „Erdklima“: „Sprachnazi“, „Sprachnörgler“, „Sprachpurist“, „Wortklauber“, Angehöriger der „Eindeutschungsguerilla“ (neu!), „Sprachpolizei“, „Sprachwächter“, „Sprachschmuggler“ (http://goo.gl/I9kv5) usw. Den „Sprachpfleger“ möchte ich ausdrücklich nicht empfehlen (http://goo.gl/W59mf), „Spracharbeiter“ (auf der Seite der Guten) ist besser. Mit der aktuellen Diskussion um das Diskriminierungspotential wird die Gangart ein wenig härter und es mischen sich auch Akteure ins Spiel ein, die an den üblichen Auseinandersetzungen um die ‚richtige‘ Sprache nicht teilnahmen, weil schlicht das Thema auch ein anderes ist. Und wie nicht anders zu erwarten, haben damit auch die Stigmawörter, mit denen man das Gegenüber und sein Handeln bezeichnet, Konjunktur.

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          • re2tko2vski Sagt:

            „Wenn Sie sich persönlich von Anatol Stefanowitsch angegriffen fühlen, dann wenden Sie sich bitte direkt an ihn“

            Zu spät. Da Herr Stefanowitsch sich seinerseits von mir angegriffen fühlt (nicht zu Unrecht), hat er mich aus seinem Forum verbannt und stellt sich taub. 😦

            „Die konservative Sicht, die der Sprache zu einem (nie existenten) Idealzustand zurückverhelfen will (da sie in desaströsem Zustand und fürchterlich krank und bald tot sei), kommt dabei im Allgemeinen (nicht in der Fachwelt) besser an:“

            Es ist schlicht eine Frage des Anspruchs. Wer sich an Rechtschreibmischmasch und Falschschreibweisen wie „recyceln“ stört, ist kein Apokalyptiker, sondern hat Sprachgefühl, und wer sich daran stört, dass jeder Wortmüll in Deutschland salonfähig ist, wenn er nur wie Englisch aussieht („Shitstorm“, „pimpen“ im Kinder- und Jugend-TV), ist kein konservativer Spießer, sondern hat seine Englischlektion gelernt.

            Was Sprachwissenschaftler heute von sprachlich gebildeten Menschen verlangen, ist so, als würde man von Musikern mit geschultem Gehör verlangen, dass sie jeden falschen Ton nachspielen, den ein Dilettant ihnen vorspielt.

            „Um bei dem Bild zu bleiben: Meteorologen, Wissenschaftler, die tagtäglich sich mit Wetterprognosen herumschlagen, weil das gesellschaftlich erwartet wird, aber eigentlich wissenschaftlich kaum jemanden interessiert, kommen gegen einen Rudi Carell mit “Wann wird’s mal wieder richtig Sommer” kaum an.“

            Und weil die Meteorologen und Klimatologen unter ihrer Bedeutungslosigkeit litten, haben sie die Klimakatastrophe erfunden und davon den Grünen erzählt. Nun auf einmal sind sie die VIPs unter den Wissenschaftlern.

            Merken Sie was? Die Progressiven sind genau solche zwanghaften Apokalyptiker wie die Konservativen.

            Denn was dem Konservativen der „Sprachverfall“, ist dem Progressiven die „diskriminierende Sprache“: Ein Grund, den Kampf gegen die Mächte des Bösen aufzunehmen und so seinem Leben wieder einen Sinn zu geben.

            Ich persönlich wehre mich einfach nur dagegen, dass man mir vorschreiben will, die Fehler von anderen, weitaus weniger Gebildeten nachzumachen. Ich weiß, Sie wollen niemanden zwingen, aber Sie unterstützen mit Ihrer wissenschaftlichen Autorität Leute, die das von mir verlangen.

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            • Alexander Lasch Sagt:

              Linguisten sehen in der Übernahme von Fremd- und Lehnwörtern in der Regel kein Problem, da sie — wenn sie sich im Sprachgebrauch stabilisieren — früher oder später an die Empfängersprache angepasst werden. Gegen den übertriebenen (und teils weniger sinnvollen) Gebrauch von Anglizismen, die das Verständnis von Texten erschweren und damit der Hauptfunktion von Texten, eine Kommunikation zu ermöglichen, entgegenstehen, wenden sich alle Kolleginnen und Kollegen im Fach. Dass dabei die Toleranzgrenze bei dem ein oder anderen schneller erreicht ist, steht außer Frage, aber das ist legitim.

              SprachwissenschaftlerInnen „verlangen“ aber nicht, dass jeder mit seinen subjektiven Wertmaßstäben diese Sprachwandelprozesse frenetisch begrüßt (die können ganz unterschiedlich ein, in Ihrem Fall hat das wohl auch etwas mit der Auffassung zu tun, dass Sprache ein Bildungsgut sei). Jeder darf selbst entscheiden, ob er bspw. „Shitstorm“ (dessen Gebrauch ich vermeide und der im Übrigen auch die Netzgemeinde polarisiert) oder „Crowdfunding“ als Begriffe nutzt. Das ändert aber nichts daran, dass sich Sprachveränderungen vollziehen und der ein oder andere Begriff („Shitstorm“ wird wohl nicht dazu gehören) sich längerfristig etabliert — wollte man diese stoppen, könnte man auch einem Baum vorschreiben, bitte die Photosynthese einzustellen. Und das nicht, weil die Sprache ein Organismus sei, aber weil zu viele Faktoren (und zu viele SprecherInnen) sie lebendig und im Wandel halten.

              Bei den Meteorlogen haben wir vllt. aneinander vorbeigeredet: Wie die Geographen, die uns in Angst und Schrecken vor der Plattentektonik versetzen, haben Meteorologen und Klimaforscher auch ihren Weg gefunden, um gesellschaftliche Relevanz zu erzeugen. Das freut mich. Aber alle Ergebnisse, die sie vorstellen, sind nichtig, wenn einer am Stammtisch behauptet, dass „früher alle Sommer besser waren“ (was objektiv nicht stimmt) und alle im Chor einstimmen. Soll heißen: Konservativismus ist einfach in vielen Denkfiguren (vor allem in Bezug auf Erinnerungskulturen) unglaublich attraktiv. Nur wird man damit nicht immer dem Thema (ob Klima oder Sprache) gerecht.

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              • re2tko2vski Sagt:

                „Linguisten sehen in der Übernahme von Fremd- und Lehnwörtern in der Regel kein Problem, da sie — wenn sie sich im Sprachgebrauch stabilisieren — früher oder später an die Empfängersprache angepasst werden.“

                Das ist eine sehr oberflächliche Sicht der Dinge.

                „Jeder darf selbst entscheiden“

                Schön wär’s. Fragen Sie doch mal einen x-beliebigen Übersetzer, was er zu dieser These sagt. Er wird schallend lachen. In der gesamten Wirtschaft wird erwartet, dass man das Vokabular seiner Vorgesetzten oder Auftraggeber übernimmt. Verweigerung ist ein Karrierekiller.

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                • Alexander Lasch Sagt:

                  „Das ist eine sehr oberflächliche Sicht der Dinge.“

                  Die Äußerung war sicher etwas knapp, doch in der Sache aus objektiven Gründen richtig: Die sprachwissenschaftliche Forschung liefert dafür nämlich gute Argumente. Diese werden auch herangezogen, um dysfunktionalen, modischen Fremdwortgebrauch (z.B. im Marketing oder der Unternehmenskommunikation) systematisch beschreiben und ggf. kritisieren zu können. Dabei ist die einfache Regel: Wenn Fremdwörter gebraucht werden, sollen sie immer erklärt sein. Fragen des ‚guten Stils‘ sind davon noch nicht berührt und systematisch an anderer Stelle zu beschreiben. Zum Thema empfehle ich: Peter Eisenberg. 2011. Das Fremdwort im Deutschen. Berlin, Boston: de Gruyter.

                  Zum zweiten Argument: Damit geht die Diskussion in eine andere Richtung, nämlich eine soziolinguistische. Wir müssten uns jetzt hier jede funktionale Varietät im Einzelnen anschauen, das schaffen wir unmöglich. Jede soziolinguistisch bestimmbare Gruppe hat eine eigene funktionale Varietät (an der sie erkennbar ist). Will man zu der Gruppe dazu gehören, muss man auch deren ‚Sprache‘ sprechen. Das gilt für Familie, Peer Group, Unternehmen, Politik und Wissenschaft. In Bezug auf das konkrete Beispiel der Unternehmenskommunikation: „Corporate Wording“ ist hier das Schlagwort und es ist sinnvoll, dass sich Unternehmen darüber Gedanken machen. Wie oben schon erwähnt gilt aber auch hier: Fremdwörter dürfen nicht dysfunktional sein und vor allem immer erklärt werden.

  10. Thomas L Sagt:

    Ich bin Arbeitslos und Hartz4-Empfänger. Meine Mutter war alleinerziehend. Das sind Tatsachen. Die Wörter selbst sind wertneutral. Wenn jetzt einige Leser negative Rückschlüsse auf mich ziehen, ist das kein Problem der Sprache, sondern ein Problem der betroffenen Leser.
    Ob ich mich jetzt als arbeits- oder erwerbslos bezeichne, es wird immer Leute geben, die mich dadurch als faul ansehen. Wörter zu verbieten wird daran nichts ändern.
    Und Behindertentransport ist negativ? Was ist mit Familienkutsche? Großraumtaxi? Das ist das Problem von allen Begriffen, man (ich) muss sich schon verrenken, um da eine negative Wertung zu sehen

    Zuletzt: Zensur geht zwar in der Regel vom Staat aus, wenn aber Frau Springer ihrem Verlag eine bestimmte Marschrichtung vorgibt, so liegt auch hier eine Form der Zensur vor. Und über so etwas sollte man frei diskutieren dürfen.

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  11. Pachulke Sagt:

    „[…] hier nur dem eigenen Scheuklappen behafteten Denken genehme Meinungen zuzulassen […]“. | Kurz: Nein. Ich behalte mir nur in bestimmten Fällen vor, Beiträge nicht freizugeben, so wie in diesem.

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  12. FreiheitlichDenkender1 Sagt:

    „Dass mein Beitrag nicht ins Blog übernommen werden wird, ist mir inzwischen bekannt.“ | Irrtum. Ich stelle Ihren freiheitlich gedachten Kommentar gern als Beispiel für Beiträge ein, die nicht zugelassen (und gelöscht), bearbeitet oder nachträglich entfernt und damit in Zukunft wesentlich weniger gelesen werden als dieses Blog.

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