
Das Ergebnis der Bundestagswahl 2009 // Quelle: Wikipedia
I
Bevor sich Jan Fleischhauer zu diesem Thema äußert — die Gefahr besteht! –, möchte ich das gern tun. Bald ist Bundestagswahl. Wie 2009 werden die großen politischen Parteien auch in diesem Jahr Wahlkampf mit Wahlprogrammen in ‚leichter Sprache‘ machen. Bei ca. 7,5 Millionen erwerbstätigen Menschen im Alter zwischen 18 und 64 Jahren in Deutschland (leo. – Level-One Studie. Stand: 2011), die nicht richtig lesen und schreiben können, verwundert das nicht — es sind potentielle Wählerinnen und Wähler, die man für sich gewinnen will und keinesfalls an das politische Gegenüber verlieren darf. Die Gruppe von 7,5 Millionen Menschen entspricht einem Anteil von ca. 14% der erwerbstätigen und damit wahlberechtigten Bevölkerung. Rechnete man für die Wahl noch die hinzu, die mit einem hohen Alter gesegnet sind (Wahlbeteiligung nach Altersgruppen), dann dürfte der Anteil noch höher ausfallen. Mit anderen Worten: ‚Mobilisierte‘ man diese Wählerinnen und Wähler für sich, wäre man (wenigstens) mit einem Schlag drittstärkste Partei im Bundestag.
Entsprechend umtriebig sind politische Parteien daher auch in Bezug auf die Veröffentlichung ihrer Wahlprogramme in ‚leichter Sprache‘ auf Bundes- und Landesebene, sollte man meinen. Gleich vorweg sei gesagt, dass kein Grund zur Sorge (und Unterstellung) besteht, dass damit wohl die Dämonen der politischen Agitation und Persuasion beschworen werden sollen, um den siebten Teil des Wahlvolkes ins Dunkel der Wahlkabine und von dort aus weiter zur Wahlurne zu führen — das hat aber andere Gründe, als man vermuten würde. Zum einen: „Die leicht verständlichen Programme für die Berliner Wahl [2011] hat, im Auftrag der Parteien, das Nueva-Ausbildungsprogramm der Lebenshilfe Berlin erstellt.“ (Sueddeutsche) Das ist ein Beispiel, das für andere Fälle auch gilt: Für die Programme von SPD und BÜNDNIS 90 / DIE GRÜNEN z.B. zeichnete 2009 „Mensch zuerst – Netzwerk People First Deutschland e.V.“ laut Impressum für die ‚leichte Sprache‘ verantwortlich. Das heißt aber auch zum anderen: Politische Parteien engagieren sich nicht in dem Maße für eigenständige Programme in ‚leichter Sprache‘, sondern lagern die ‚Übersetzung‘ einfach aus.
II
Das kann, wie gleich zu sehen sein wird, auch Konsequenzen haben, die möglicherweise überhaupt nicht in der Absicht der politischen Parteien liegen. Im Netz sind heute immer noch zugänglich die Programme für die Bundestagswahl 2009 des Mitte-Links-Lagers von SPD, B90/DIE GRÜNEN und DER LINKEN — und damit verfügbar für kleine Schlagwortanalysen. Mit dem Tool http://www.wordle.net/create erstellt man schnell und effektiv (nicht repräsentative) Wordclouds, die einen Eindruck davon vermitteln, welche Wörter besonders häufig in den Texten verwendet werden:
Zumindest auf Wortebene wird deutlich, dass sich die Parteien am linken Spektrum nicht sonderlich voneinander zu unterscheiden scheinen — gut, DIE LINKE spricht häufiger von Geld als von Menschen, aber damit ist noch überhaupt nichts gesagt. Schließt man hingegen eine n-Gramm-Analyse an, also die Suche nach größeren Einheiten aus mehreren Wörtern, die häufig zusammen auftreten, sehen die Ergebnisse schon deutlich anders aus. Da die Wahlprogramme jedoch vom Umfang her sehr beschränkt sind (Type-Token-Relation für SPD 579/2712, B90/DIE GRÜNEN 709/3476, DIE LINKE 368/832), bietet sich hier lediglich eine qualitative Analyse ausgewählter Belege an. Und streng genommen muss man das Programm DER LINKEN ganz herausnehmen bei diesem Zugriff über die Ergebnisse der Suche nach auffälligen sprachlichen Mustern, da die Frequenz der n-Gramme viel zu niedrig ist, um Hypothesen zu generieren — ich gebe Sie aber der Vollständigkeit halber am Schluss des Textes dennoch an.**
Die ersten 15 Tri-Gramme mit „Menschen“ in den Parteigrogrammen von SPD und B90/DIE GRÜNEN (Frequenz und Tri-Gramm) sind:
SPD
8 für behinderte Menschen
5 Behinderte Menschen sollen
4 alle anderen Menschen
4 anderen Menschen auch
4 Menschen in Deutschland
3 Alle Menschen sollen
3 Die Menschen sollen
3 für alle Menschen
3 Menschen in den
3 Menschen sollen gut
2 Alle diese Menschen
2 Ausländische Menschen sollen
2 behinderte Menschen geben
2 den Menschen in
2 die Menschen ihre
B90/GRÜNEN
16 für alle Menschen
10 Alle Menschen sollen
7 für die Menschen
7 Menschen in Deutschland
5 Viele Menschen haben
3 Menschen haben Angst
2 Allen Menschen soll
2 Damit die Menschen
2 dass alle Menschen
2 die Menschen in
2 Menschen auf der
2 Menschen mit viel
2 Menschen soll es
2 oder erwachsene Menschen
1 alle anderen Menschen
Durch Fettdruck habe ich der Einfachheit halber die Tri-Gramme hervorgehoben, die für die jeweiligen Parteiprogramme mehr oder weniger typisch sind. Die SPD scheint demnach gerne nach für den Sozialstaat relevanten Kategorien zu sortieren — ob es guter Stil ist, behinderten Menschen, an die das Programm auch adressiert ist, unentwegt zu sagen, dass sie behindert sind, sei dahingestellt. Das gelingt den B90/GRÜNEN, die in den meisten Fällen alle / erwachsene Menschen adressieren, wesentlich besser. Auffällig ist auch das im Programm der SPD in zwei Fällen gebrauchte Attribut „ausländisch“ in Ausländische Menschen (gezählt wird hier exakt nur diese Variante mit Großschreibung), das nicht nur stilistisch markiert ist, sondern auch — um es vorsichtig zu sagen — durchaus Stigmatisierungspotential hat. Ein Blick in den weiteren Kontext mildert diesen Eindruck nicht ab:
„In Deutschland leben viele verschiedene Menschen:
- Alte Menschen und junge Menschen.
- Männer und Frauen.
- Deutsche Menschen und ausländische Menschen.
- Menschen mit Behinderung.
Alle diese Menschen sollen gut zusammen leben.“
Hätte es nicht ein in Deutschland leben viele Menschen getan? Abgesehen davon, dass Menschen ohne Behinderung nicht separat ausgewiesen werden, ist wichtig zu wissen, dass diese Differenzierung scheinbar nur dazu dient, das Programm zu strukturieren und die einzelnen identifizierten Wählergruppen im Folgenden gezielt ansprechen zu können. An den Tag tritt dabei auch, dass das Attribut ausländisch wesentlich häufiger verwendet wird (nämlich mit anderen Kollokaten und in morphosyntaktisch unterschiedlicher Einbettung). Man liest nämlich:
„Ausländische Menschen sollen gut in Deutschland leben:
- Ausländische Kinder sollen gut deutsch sprechen lernen. Das ist für ausländische Kinder besonders wichtig. Dann können sie in der Schule gut mit den anderen Kindern lernen. Dafür gibt es Sprach-Kurse.
- Ausländische Menschen sollen leichter die deutsche Staats-Bürgerschaft bekommen.“
Es wäre wünschenswert, wenn alle Menschen gut deutsch sprechen lernen und vor allem lesen und schreiben. Doch vor allem von letzteren Kulturtechniken ist an keiner (!) Stelle die Rede, obwohl das Programm eigentlich auch dafür ein Anfang sein könnte. Die Übernahme des ‚großen Wahlprogramms‘ und dessen einfache Übersetzung führt, wie an diesen Belegen deutlich wird, sicher ungewollt dazu, dass wichtige Themen, man könnte hier Bildung nennen, zugunsten einer Wählergruppenorientierung nicht im Vordergrund stehen.
Auffällig bei B90/DIE GRÜNEN ist das Tri-Gramm Menschen haben Angst, das in folgenden Kontexten verwendet wird:
„Schwierige Zeiten.
Wir haben eine große Wirtschafts-Krise. Und eine Finanz-Krise. Die Folgen der Krisen treffen jeden und jede. Viele Menschen haben Angst, dass sie ihren Arbeits-Platz verlieren. Viele Menschen haben keinen Arbeits-Platz mehr. Die Menschen haben Angst, dass sie keinen neuen Arbeits-Platz bekommen. Viele Dinge sind nicht gut. In Deutschland und auf der ganzen Welt. Es gibt viele Dinge, die nicht gut sind.“
An anderer Stelle wird das Thema wiederholt:
„Zur Zeit haben wir zwei große Krisen. Wir haben auf der ganzen Welt eine Finanz-Krise. Und eine Wirtschafts-Krise. Viele Menschen haben Angst vor der Zukunft. Sie brauchen ein soziales Netz.“
So wichtig die Themen der sozialen Sicherung und vor allem des Arbeitsplatzes sind, so erschrecken nur B90/DIE GRÜNEN die Wählerinnen und Wähler so effektiv. Insgesamt stechen die 12 Belege für Krise (und deren Komposita Finanz-Krise, Wirtschafts-Krise) im Programm von B90/DIE GRÜNEN zwar nicht signifikant hervor (mit vergleichbarer Häufigkeit: SPD 7 Belege, DIE LINKE 4 Belege), aber weder SPD noch DIE LINKE jagen den Wählerinnen und Wählern Angst (in deren Programmen nicht belegt) ein. Das mag rhetorisch geschickt sein, aber verträgt sich das mit dem Selbstbild, welches B90/DIE GRÜNEN von sich haben?
III
Texte in ‚leichter Sprache‘ sollten keine komplexitätsreduzierten Linearübersetzungen und damit ‚kleinen Geschwister‘ größerer Texte sein, sondern eigenständige Formate, die als solche auch zu entwickeln sind. An den exemplarisch besprochenen Ausschnitten sollte deutlich werden, dass es durchaus gegeben sein kann, Texte (wie Wahlprogramme) in ‚leichter Sprache‘ unabhängig und mit redaktioneller Beratung zu erstellen, um ungewünschte Effekte bei einer ‚Übersetzung‘ zu vermeiden.
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* Der Titel ist ein Amalgam aus den häufigen Tri-Grammen der untersuchten Parteiprogramme „ausländische Menschen“ (SPD) und „Menschen haben Angst ( B90/DIE GRÜNEN).
** DIE LINKE: 2 für Menschen ein; 2 für Menschen mit; 2 Menschen ein, die; 2 Menschen, die nicht; 2 sich für Menschen; 1 alle anderen Menschen; 1 alter Menschen fehlt; 1 die Menschen kriegen; 1 die reichen Menschen; 1 Diese Menschen haben; 1 meistens ältere Menschen; 1 Menschen fehlt es; 1 Menschen haben gearbeitet; 1 Menschen kriegen, die; 1 Menschen mit einer.
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Titelbild von Victor Bezrukov.
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[…] sondern eigenständige Formate, die als solche auch zu entwickeln sind. Dem Thema habe ich einen eigenen Artikel gewidmet, auf den ich hier nur […]
[…] Auch Alexander Lasch hat sich Wahlprogramme in Leichter Sprache angeschaut. Er hat die Wahlprogramme aus dem Jahr 2009 angeschaut. Das Ergebnis steht in seinem Blog unter diesem Link: Wahlkampf in Leichter Sprache […]