Digital Herrnhut – Identifikation eines Forschungsgegenstands

26. Oktober 2019

Forschung, Projekte

Seit Jahren begleitet mich das Thema Herrnhut mal lauter und mal leiser. Und nun, nachdem ich mich im Hinblick auf die Koloniallinguistik positioniert habe, bin ich kurz davor, ein Thema auszuformulieren. Vorausgeschickt sei, dass in diesem Artikel Begriffe verwendet werden, die zweifelsohne als rassistisch einzustufen sind. Sie werden zur kritischen Distanzierung mit Asterisk markiert – so werden sie visuell nicht vor dem Text herausgehoben, aber dennoch in ihrem Status ausgezeichnet.

Digital Herrnhut: Forschungsfragen

Für unsere Sicht, das heißt, unsere europäische Sicht, auf die Welt spielen Narrationen und Metanarrationen aus Missionskontexten eine große Rolle. Sie sind aber in unseren Diskursen nach und nach überschrieben worden – mit Jäger 2013 kann man neutral von einem Fall sprechen, der exemplarisch für die „Transkriptivität des kulturellen Gedächtnisses“ steht. Diese verborgenen und überschriebenen Narrationen Herrnhuts sollen geborgen und in die Forschung zurückgespiegelt werden – allerdings nicht in einen missionshistorischen Kontext und auch nicht in einen missionarslinguistischen oder gar missionstheologischen.

Herrnhut vom Hutberg aus gesehen.

In den letzten Jahren zeichnet sich in den Geisteswissenschaften eine kognitive Wende ab, die von konstruktivistisch orientierten Prämissen ausgehend ein vitales Interesse daran entwickelt haben, (soziale) Wirklichkeit als durch kulturelle Artefakte konstituierten Wahrnehmungsgegenstandsausschnitt zu begreifen. Mich interessiert daher also zunächst,

  1. wie man sich theoretisch, methodisch und forschungspraktisch einem Gegenstand nähert, der transkriptiv überschrieben worden ist, und
  2. wer unser (europäisches) Wissen von und unsere (europäische) Perspektive auf die Welt mit konstruiert hat, welche ideologischen Prämissen dabei eine Rolle spielten und in welche Denk- und Deutungsmuster wir uns eingeübt haben, ohne diese zu reflektieren.

Für einen Linguisten, der sich mit Grammatik und Sprachwandel auseinandersetzt, kommen sekundär hinzu:

  1. Wie bildet sich in den bestens dokumentierten Wissensbeständen Sprach- als Konstruktionswandel ab?
  2. Welchen Einfluss haben darauf multilingual geprägte Publikationspraxen?
  3. Wie ist das Verhältnis zwischen handschriftlich (halböffentlicher) und druckschriftlicher (öffentlicher) Informationsweitergabe?

Ich freue mich noch mehr darauf, nachdem ich gemeinsam mit Konstantin Hermann (SLUB) und Juan Garcés (SLUB) einen Blick in das Unitätsarchiv werfen durfte – die Bestände eignen sich in besonderem Maße wegen ihrer Dokumentationsdichte für ein digitale Erschließung.

Missionarsverzeichnis im Lesesaal des Unitätsarchivs.

Es brauchte die lange Vorbereitungszeit für mich wohl, um die Schätze, die dort für eine mentalitätsgeschichtlich orientierte Sprachgeschichte liegen, adäquat einschätzen zu können. Schon mit Namen umgehen zu können, Organisationsstrukturen verstanden zu haben, mich mit der Theologie der Gemeinschaft befasst zu haben, einige der Publikationsarten und -wege zu kennen, hilft enorm.

Abschrift der Gemeindiaria aus Neuwied im Herrnhuter Unitätsarchiv.

Dennoch: Ich weiß bis heute viel zu wenig und ich werde in meinem Leben nicht alles verstehen können. Mit anderen Worten: Es gibt eine Menge zu tun. Vielleicht in einem Citizen Science Projekt?

Vermessung eines Wissenskosmos

Immer stärker in den Mittelpunkt rücken in meinen Überlegungen die Native Americans im Spiegel der Herrnhuter Nachrichten aus Nordamerika – und auch bei meinen Kolleg·inn·en, die mit mir kürzlich auch das Archiv besuchten, scheint hier das Interesse zusammenzulaufen. Es stellt sich für uns ganz praktisch die Frage (um sie direkt noch einmal zu zitieren): Wie nähert man sich theoretisch, methodisch und forschungspraktisch einem Gegenstand, der transkriptiv überschrieben worden ist?

Die erste Aufgabe klingt relativ einfach, ist aber sehr zeitaufwendig und komplex: Finde ein Team von Interessierten und sichte das Material und arbeite daran, um einen Gegenstand zu identifizieren, der mit den vorhandenen Ressourcen z.B. als Pilot erschlossen werden kann. Auch braucht man Glück, um zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein. In Dresden werbe ich mittlerweile seit zwei Jahren für die Auseinandersetzung mit Herrnhutischen Texten und vor allem jenen, die nicht zwingend zur Erbauung gedacht sind. Die Basis dafür ist gut: Ich habe mich 2004 zu Herrnhut promoviert und 2009 eine Anthologie Herrnhutischer Missionsnachrichten veröffentlicht. Danach immer wieder kleinere Beiträge, die mit Herrnhut mal mehr und mal weniger in direkter Beziehung standen. Schließlich gab ich gemeinsam mit Wolf-Andreas Liebert 2017 das Handbuch Sprache und Religion heraus, in welchem unsere Überlegungen zur Religionslinguistik zusammengeführt sind. Auf insgesamt drei Arbeitstagungen zur Religionslinguistik habe ich Texte Herrnhutischer Provenienz aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet. Am deutlichsten wird mein Anliegen wohl aber in einem Artikel aus diesem Jahr, in dem ich eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen europäischen Geschichte und dem unserer Geschichte inhärenten Superioritätsgedanken als Gegenstand sprachhistorischer Forschung fordere.

Währenddessen fanden an der TU Dresden an meiner Professur in Kooperation mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) und besonders dem TextLab der SLUB in den letzten zwei Jahren kontinuierlich Lehrveranstaltungen während des Semesters und Workshops in der vorlesungsfreien Zeit statt, in denen systematisch an den großen Missionsnarrativen der Herrnhuter, und hier dezidiert an den ethnographischen Teilen derselben, im Hinblick auf Digitalisierungs- und Erschließungsmöglichkeiten gearbeitet wurde:

  1. Georg Heinrich Loskiel. 1789. Geschichte der Mission der evangelischen Brüder unter den Indianern in Nordamerika.
  2. Christian Ignatius Latrobe. 1794. History of the Moravian Mission among the North American Indians. (Direktübersetzung Loskiel 1789)
  3. Christlieb Quandt. 1806. Nachrichten von Suriname und seinen Einwohnern.
  4. David Cranz. 1765. Historie von Groenland.

Für mich war vor allem wichtig, in Erfahrung zu bringen, welches der Territorien und welche Geschichten auch bei Studierenden am meisten auf Interesse stoßen. Heute kann ich sagen, dass wir uns aus dieser Auswahl auf die Native Americans konzentrieren werden. Das hat verschiedene Gründe:

  1. Alle Quellen aus Grönland liegen im Unitätsarchiv Herrnhut, da die grönländische Mission aufgelöst worden ist. Das heißt, dass nicht nur Abschriften der Gemeindiaria und Briefe der Erschließung harren, sondern alles Originalmaterial aus der Herrnhutischen Mission. Das ist ein eigener Wissenskomplex, der in dieser Form auch eigenständig bearbeitet werden soll. Gleiches gilt im Übrigen für Sarepta (Arbeitspakete 5 und 6).
  2. Surinam ist ein besonderes Pflaster und die Grundlagen für Verständnis und Erschließung sind sehr komplex und wegen der besonderen Bevölkerungsstrukturen im Norden Südamerikas eine wirkliche Herausforderung (Sklavenhandel, politische Zustände usw.) (Arbeitspaket 4).
  3. Die Texte aus der Karibik sind besonders im Hinblick auf den Abolitionismus zu untersuchen. Hier ist noch theoretische Verständigung in der Koloniallinguistik im Hinblick auf den Rassenbegriff notwendig (Arbeitspaket 3).
  4. Südafrika wäre aus ganz verschiedenen Gründen sicherlich ebenso interessant wie Nordamerika und wird mit ziemlicher Sicherheit als zweiter Wissenskomplex näher untersucht (Arbeitspaket 2). Die Herrnhuter fühlten sich zu diesem Teil der Welt besonders hingezogen, weshalb die oben erwähnte Anthologie auch den Titel Mein Herz blieb in Afrika trägt.
  5. Unsere europäische und spezifische deutsche Sicht auf *Indianer ist gänzlich verzerrt durch die Rezeption von Roman- und Abenteuerliteratur Karl Mays und die zugehörigen Filme, die in den 1960ern außerordentliche Erfolge feierten und die nächsten 30 Jahre zu einer Manifestation des Bildes vom guten, moralisch unangefochtenen, naturphilosophisch überlegenen und stets geschmückten *Indianer auf Pferd mit Jagdgewehr geführt haben dürften. Was wir als *Indianerbild perpetuieren, ist eines des 19. Jahrhunderts und nur durch den Einfluss der Europäer in Nordamerika überhaupt erst entstanden: Das Pferd kam genau so mit den Europäern wie die Feuerwaffen. Unser Bild hat wenig bis nichts mit der Kultur und den Lebensgewohnheiten der Native Americans zu tun, die mitnichten ausschließlich in bemalten Tipies lebten und Bisons in der Prärie jagten – dorthin wurden sie erst durch die Weißen über den Mississippi hinaus vertrieben und ein Überleben wurde hier überhaupt erst durch Pferde möglich. Die Distanz zu den Native Americans ist für uns, die wir aus Mitteleuropa blicken, erstaunlich groß. Das zeigt augenscheinlich, wie die Jägersche „Transkription“ zu denken ist. Nicht verschwiegen sei, dass wir für Nordamerika mit dem Archiv der Unität in Bethlehem, Pennsylvania, kooperieren müssen. Sie werden unsere Deutschkompetenz brauchen, wir ihre Quellen (Arbeitspaket 1).
Bildergebnis für winnetou bilder

Pierre Brice als Winnetou

Wir werden uns also in einem ersten Arbeitspaket auf Nordamerika einlassen und haben dafür schon eine relevante Kette an Wissensträgern identifiziert, die wir systematisch im Kontext einer deutschen Sprachgeschichte erschließen können:

  1. David Zeisberger. 1772-1781. Missionstagebücher.
  2. Georg Heinrich Loskiel. 1789. Geschichte der Mission der evangelischen Brüder unter den Indianern in Nordamerika.
  3. Christian Ignatius Latrobe. 1794. History of the Moravian Mission among the North American Indians. (Direktübersetzung Loskiel 1789)
  4. John Heckewelder. 1819. An account of the History, Manners, and Customs of the Indian Nations.
  5. Abraham Steiner.
    • Bemerkungen, die Nation der Cherokee=Indianer in Nord=Amerika betreffend, vornehmlich in Bezug auf die Missions=Anstalten in ihrem Lande überhaupt, und insonderheit auf den Missionsposten der Brüder in Springplace. Zusammengetragen im Jahr 1819, bey Ge-legenheit eines von dem Br. Abraham Gottlieb Steiner aus Salem in Nord=Carolina, in Auftrag der dasigen Provinzial=Helfer=Conferenz gemachten Besuchs daselbst. In: NBG 1821, Heft 3, 342-371.
    • Bericht des Br. Abraham Steiner von seinem im Herbst 1819 in Gesellschaft des Br. Thomas Pfohl von Salem aus gemachten Besuch in Springplace. In: NBG 1821, Heft 3, 371-389.
    • Lebenslauf des verwitweten Bruders Abraham Steiner, heimgegangen zu Salem in Nord=Carolina den 22. Mai 1833. In: NBG 1835, Heft 4, 657-753.

Steiner unternimmt mit Heckewelder eine Visitationsreise. Heckewelder 1819 wird zur Vorlage für die Lederstrumpf-Trilogie von James Fenimore Cooper.

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